Editorial
Eine der wichtigsten Lebensadern für die italienische Literatur des 20. Jahrhunderts verläuft durch die südpiemontesische Region der Langhe. 1908 wurde in Santo Stefano Belbo, einem verschlafenen Winzerdorf, Cesare Pavese geboren. Nur einige Kilometer entfernt, in Dogliani, erblickte 1912 Giulio Einaudi das Licht der Welt. Einaudi wird einen der grössten italienischen Buchverlage gründen und mit seinem Verlagsprogramm die kulturelle Entwicklung des Landes massgeblich beeinflussen. Sein Freund Cesare Pavese zählt zu den wichtigsten und einflussreichsten italienischen Autoren unserer Zeit. Ausserdem machte er sich einen Namen als Übersetzer moderner amerikanischer Literatur von Steinbeck bis Hemingway und als prägender, literarischer Verlagsleiter im Giulio Einaudi Verlag.
Die Hügel der Langhe rund um Santo Stefano Belbo wurden in der Prosa von Cesare Pavese zu einem klassischen Locus amoenus – einer idealisierten Naturdarstellung. An den steilen Hängen wachsen Weinreben und Nüsse, Kargheit prägt das harte und entbehrungsreiche Leben der Bauern. Für Pavese, der in Turin aufwächst, sind die Langhe der Ort der Sommermonate seiner Kindheit – ein ewiger Sehnsuchtsort voller Empfindungen und Gefühle.
In seinem letzten Werk «Der Mond und die Feuer» beschreibt er, auf welch vielschichtigen Wegen sich die kindliche Erinnerung ihren Weg in die Sehnsüchte von uns Erwachsenen bahnt: «Wie die Sonne auf diese Höhen brennt, wie der karge Boden und der Tuffstein zurückstrahlen, das hatte ich vergessen. Mehr als vom Himmel kommt die Hitze hier von unten – aus der Erde, aus dem Grund, der jedes Grün verschluckt zu haben scheint, um alles den Schösslingen zu geben. Es ist eine Hitze, die mir gefällt, sie hat einen Geruch: Auch mich enthält dieser Geruch, unendlich viele Weinlesen und Heuernten und das Kappen der Triebe rund um die Traube, vielerlei Geschmack und viele Gelüste, von denen ich nicht mehr wusste, dass ich sie habe.»
Eigentlich ist Cesare Pavese nur schlecht als Heimatschriftsteller zu vermarkten. Auch wenn es heute unzählige Angebote gibt, die uns die Schauplätze seiner Romane schmackhaft machen wollen. Doch die Orte in seinen Romanen sind Sehnsuchtsorte, wie man sie in der Realität nur findet, wenn man die Sehnsüchte, wie sie Pavese in seiner unnachahmlichen Poesie beschreibt, auch nachempfinden kann.
So taucht der Geburtsort Santo Stefano Belbo wiederholt als ein mystifizierter Ort von archaischer Kraft in seinen Romanen auf. Das heutige Santo Stefano Belbo wirkt dagegen wie eines der vielen, aufgeräumten Winzerstädtchen in den Langhe.
Was wir Reisende aus Paveses Prosa mitnehmen können, ist: nicht nur auf den Spuren anderer zu wandeln und zu versuchen, ihre Orte zu unseren zu machen. Sondern unseren Sehnsüchten nachzureisen – wo auch immer sie verortet sind. Und vielleicht ist die weite Hügellandschaft der Langhe ein guter Startpunkt, um damit zu beginnen.
Und nun wünschen wir Ihnen schöne Entdeckungen.
Simone Quast und Gianni Bombèn